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15. August 2013 (Aus den Städten)

Gemeinsam leben

Mit dem Abriss verschwand eines der letzten Überbleibsel aus der Hausbesetzerzeit der frühen 1980er-Jahre. Hunderte junger Menschen lebten über die Jahre hinweg in dem historischen Backsteingebäude an der Chemnitzer Straße 10. Alternativ. Gemeinschaftlich. Gegen Anonymität. Aber auch heute gibt es Projekte, in denen es sich „anders“ leben lässt.

„Der stärkste Impuls, sich damals so ein Haus anzueignen, war die Wohnraumknappheit. Nach den Flächensanierungen der 1970er-Jahre befand sich die Stadtentwicklungspolitik im Umbruch. Es wurde viel von erhaltender Stadterneuerung gesprochen“, erinnert sich Prof. Dr. Reiner Staubach. Der Raumplaner lebte Anfang der 1980er-Jahre in der Chemnitzer Str. 10. „Es herrschte eine Stimmung der Veränderung. Es gab die Frauenbewegung, die Friedens-, die Umweltbewegung, die links-alternativen Konzepte. Alles war Teil einer tiefergreifenden sozialen Bewegung. Und innerhalb dieser Aufbruchsstimmung fanden natürlich auch Selbstfindungsprozesse statt, die in alternativen Wohnkonzepten und -projekten mündeten.“

Aneinander abarbeiten

Gemeinsam wohnen bedeutete etwas ganz anderes, als es die heutigen etablierten, vom Studentenwerk subventionierten, Zweckgemeinschaften im Studentendorf ahnen lassen. Gemeinsam wohnen bedeutete: gemeinsam leben. Sich miteinander auseinandersetzen, sich aneinander ab-arbeiten und viele Diskussionen. Gleichzeitig beeinflussten solche Wohnkonzepte auch die Gesellschaft. „Das Haus war ein Ort, an dem sich die Szene traf“, weiß Reiner Staubach. „Hinter der Fassade tat sich kulturell und politisch einiges, das in die Stadt hinein wirkte und sie nachhaltig bereicherte. Das war spannend.“ So fällt die Gründung des Planerladens in der Nordstadt – 1982 – an der auch Staubach beteiligt war genau in diese Zeit.

Svenja Noltemeyer lebte ebenfalls in der Chemnitzer Straße 10. Allerdings mehr als 20 Jahre später – von 2006 bis 2011. Und spannend war es aus anderem Grund: Die Eigentümerin der Immobilie, die VOLKSWOHL-BUND-Versicherung, wollte im Zuge des Neubaus ihres Verwaltungsgebäudes am Wall den Baustellenverkehr über die Chemnitzer Straße – eine enge Einbahn- und Spielstraße – leiten. Dem WG-Haus drohte der Abriss. „Das war eine fixe Idee von denen. Sie wollten das alte Hochhaus abreißen und schickten uns die Kündigungsschreiben, damit über die Fläche der Zugang zur Baustelle erfolgen kann. Mit einer Frist von drei Monaten sollten wir – immerhin 16 Menschen in vier WGs – das Haus verlassen.“ Gemeinsam mit weiteren Anwohnern der Chemnitzer Straße, beraten durch den Mieterverein und begleitet von einer breiten Medienberichterstattung, gelang es den Studierenden, das drohende Unheil abzuwenden. „Die Kündigungen wurden zurückgenommen. Allerdings wurden bei Auszügen auch keine neuen Mieter aufgenommen.“ Zog der Hauptmieter einer Wohnung aus, wurde der Mietvertrag nicht auf andere Mitbewohner umgeschrieben, sodass diese mitausziehen mussten. Ab 2011 stand das Gebäude schließlich ganz leer. „Dort zu wohnen, war etwas ganz Besonderes. Es war ein schöner Altbau, wir machten sehr viel selber und vor allen Dingen: gemeinsam. Grillen im Hinterhof, Pokerabende im 2. OG oder Fußball spielen. Bei so vielen Leuten bilden sich immer spontane Teams. Viele haben Raumplanung oder Sozialpädagogik studiert. Dadurch gab es eine große gemeinsame Basis.“

Mehr Mut

Ähnliche Häuser kennt Svenja Noltemeyer in Dortmund kaum. Und findet es schade, dass vielfach der Mut fehlt, leerstehenden Gebäuden eine neue Nutzung zu geben. Sowohl durch die Eigentümer, als auch durch Nutzer. „Die Besetzung der Kronen-Brauerei durch die „Initiative für ein Unabhängiges Zentrum“ war zwar ein Statement, allerdings endete die Aktion bereits nach wenigen Stunden. Wer günstige Alternativen hat – und die sind im Ruhrgebiet vorhanden – der besetzt nicht illegal ein Haus und nimmt die juristischen Konsequenzen in Kauf. Die Szene vor 30 Jahren war mutiger.“

Generationsübergreifende Gemeinschaft

Obwohl sich die Gesellschaft verändert hat, ist das Thema Alternatives Wohnen heute aktueller denn je. Aber anders! Raumplanerin Birgit Pohlmann berät Menschen, die sich für ein gemeinschaftliches Wohnen entscheiden. Sie hat die WIR-Projekte in Dortmund und anderen Städten initiiert und begleitet. „Andere Dinge sind wichtiger geworden. Gemeinschaftlich wohnen bedeutet heute auch: generationsübergreifendes Wohnen. Die „klassischen“ WG-Häuser hatten ja zumeist eine recht homogene Bewohnerstruktur: Studierende gleichen Alters, mit ähnlichen Ideen, nicht selten das gleiche Fach studierend.“ Und Birgit Pohlmann weiß, wovon sie spricht: Ihr damaliger Freund wohnte Anfang der 1980er-Jahre für einige Monate in der Chemnitzer Straße 10, sie selbst in einer ähnlichen WG in der Fliederstraße. „In den WIR-Projekten leben junge Familien, berufstätige Singles und Senioren im Ruhestand miteinander. So unterschiedliche Biografien führen jedoch dazu, dass man viel miteinander kommunizieren muss, denn die Wertvorstellungen und Lebenswirklichkeiten differieren stark. Aber gerade wegen dieser Vielfalt ist die Lebensqualität in den WIR-Projekten unglaublich hoch.“

Das kann Martin Steinestel bestätigen. Er wohnt mit Frau und Kind seit einem Jahr in dem Projekt „WIR auf Phoenix“. „Es war eine bewusste Entscheidung für uns. Wir wollten alters- und interessenübergreifend wohnen. Nicht nebeneinander und nicht in einem Altbau mit Sanierungsstau. Das WIR-Neubauprojekt mit seiner energetisch optimierten Bauweise und den gemeinschaftlichen Aktivitäten der 40 Bewohner war da genau die richtige Wahl.“ Realisiert wurde „WIR auf Phoenix“ – im Gegensatz zu vielen anderen WIR-Projekten – als reines Mietwohnungsprojekt. So entstanden in Kooperation mit der Wohnungsgenossenschaft gws 20 Wohnungen für Jung und Alt in der Nähe der Hörder Innenstadt. Generationsübergreifender Kontakt und Erfahrungsaustausch sind ausdrücklich gewünscht und vermitteln Alltagserfahrungen, die heutzutage – in städtischen Kleinfamilien – nicht mehr selbstverständlich sind.

Auch wenn die mit Kampfsprüchen geschmückten, besetzten Häuser nicht mehr das Stadtbild prägen, so hat die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens überlebt. Heute ist es die bewusste Abkehr von der Anonymität in Großsiedlungen, die Projekte wie WIR so attraktiv macht. Beiden gemeinsam ist die bewusste Entscheidung der Mieter, ihr Wohnen und Leben nicht an der eigenen Wohnungstür enden zu lassen.

Mirko Kussion / report.age


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