Wohnungspolitik > Aus den Städten
15. September 2015 (Aus den Städten)

Wohin mit den Flüchtlingen?

Unter dem Schlagwort „Flüchtlinge auf dem Friedhof“ machte die Stadt Bochum im Juli bundesweit Schlagzeilen. Beeindruckt von dem gewaltigen Medienecho ist die Kommunalpolitik von dem Beschluss, 22 Flüchtlingscontainer auf einer (nie benutzten) Erweiterungsfläche des Friedhofs Weitmar aufzustellen, längst wieder abgerückt. Doch hier wie überall wird die Suche nach geeigneten Standorten immer schwieriger. MF sprach darüber mit Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW.

MF: Was macht einen guten Standort für eine Flüchtlingsunterkunft aus?

Naujoks: Gut ist, wenn die Dinge, die alle Menschen, also auch Flüchtlinge, zum Leben brauchen, in der Nähe sind: Ein bisschen Infrastruktur, Geschäfte zum Beispiel, Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr, Freiflächen, Nachbarschaft, Ruhe einerseits, aber auch nicht zu abgeschieden.

MF: Vieles davon gibt es an der Schloßstraße in Weitmar. Und überall in unseren Städten wohnen Menschen unmittelbar neben Friedhöfen. Warum ist das trotzdem kein guter Standort?

Naujoks: Die Konfrontation mit dem Thema Tod kann Personen, die aus akut lebensbedrohlichen Situationen kommen, retraumatisieren. Aber natürlich empfinden die Menschen so etwas sehr unterschiedlich. Letztlich ist das eine Frage der räumlichen Abtrennung. An der Schlossstraße ist nur ein schmaler Fußweg zwischen der Wiese, um die es ging, und dem nächsten Gräberfeld.

MF: Nun sind Container ja sicherlich ohnehin nicht die erste Wahl, wenn es darum geht, Menschen ein - und sei es auch nur vorübergehendes - Zuhause zu schaffen.

Naujoks: Natürlich nicht. Der Flüchtlingsrat hat Mindestanforderungen für die Unterbringung formuliert. Dazu gehören Festbauweise, einwandfreie hygienische Zustände, eine Mindeastgröße, Privatsphäre für jeden Einzelnen, Geschlechtertrennung, ...

MF: Alles Ansprüche, die derzeit nicht zu realisieren sind.

Naujoks: Das stimmt, aber man darf ja nicht aus den Augen verlieren, was man eigentlich richtig findet, sonst findet man sich mit der Situation ab, so wie sie ist.

MF: Wie sieht es denn mit „weichen“ Standortfaktoren aus? Der Nachbarschaft, zum Beispiel ...

Naujoks: Flüchtlingsunterkünfte dürfen nicht zu einer weiteren Gettoisierung führen. Flüchtlinge haben viele Einschränkungen, zum Beispiel den erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt. In einer Gegend mit ohnehin hoher Arbeitslosigkeit macht das die Lage für Flüchtlinge nicht besser. Proteste gibt es allerdings eher in bürgerlichen Gegenden. Da haben dann Hauseigentümer Angst vor dem Wertverlust der eigenen Immobilie. Am besten ist eine gleichmäßige Verteilung übers Stadtgebiet. Das ist dann auch ein Zeichen der Politik an die Bevölkerung: Das geht uns alle an, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nehmen wir auch als solche wahr.

MF: Flüchtlinge leben nicht nur in Containern, Zelten oder Notunterkünften, sondern auch in ganz normalen Wohnungen. Nicht selten fühlen sich dann „normale“ Mieter, die Schwierigkeiten haben, ihre Wohnung zu bezahlen, benachteiligt. „Für die ist das Geld da“ heißt es dann. Ist die Unterbringung in Normalwohnungen nicht sehr teuer?

Naujoks: Im Gegenteil, dass ist oft die preiswerteste Lösung, das haben Untersuchungen aus verschiedenen Städten bewiesen. Gemeinschaftsunterkünfte sind häufig instandsetzungsbedürftig, betreuungsbedürftig, heizbedürftig. Container, die ja leider oft als Regel-Gemeinschaftsunterkünfte genutzt werden, sind in Anschaffung oder Leasing extrem teuer, das lohnt sich nur, wenn man sie viele Jahre lang nutzt. Aber letztlich ist der Pro-Kopf-Preis natürlich vor allem abhängig von der Belegungsdichte. Leider werden in Normalwohnungen meist nur Flüchtlinge untergebracht, die eine günstige Perspektive haben, hier bleiben zu können.

MF: Warum ist das Problem denn jetzt überhaupt so gravierend geworden?

Naujoks: Es ist richtig, dass mit einer so hohen Zahl an Flüchtlingen, niemand gerechnet hat, auch wir nicht. Im Moment hat die Vermeidung von Obdachlosigkeit die aller oberste Priorität. Mindeststandards treten da in den Hintergrund. Und Container sind ja beileibe nicht mal das untere Ende der Skala. In Turnhallen beispielsweise lässt sich so etwas wie Privatsphäre höchstens optisch ein bisschen realisieren, wenn man Schlafstellen durch Stellwände abtrennt, akustisch aber gar nicht. Und in Zelten haben die Flüchtlinge nicht mal ein festes Dach über dem Kopf. Aber im Moment geht es nicht darum, irgendetwas anzuprangern, sondern den Zustand so schnell wie möglich wieder zu beenden.

MF: Gab es nicht in den 90er Jahren schon einmal eine hohe Zuwanderung? Warum sind wir jetzt nicht besser vorbereitet?

Naujoks: 1992 wurde mit fast 440.000 Flüchtlingen in Deutschland ein Höchststand erreicht. Nach der Grundgesetzänderung von 1993 sind es dann kontinuierlich weniger geworden. 2007 war der Tiefststand mit nur noch 20.000 Personen. Die Prognose für 2015 steht jetzt bei 800.000. Damit konnte tatsächlich niemand rechnen. Aber ich will die Sünden der Vergangenheit gar nicht schön reden.

MF: Die wären?

Naujoks: Die Flüchtlingszahlen steigen seit 2008 wieder, aber darauf wurde viel zu spät reagiert. 2012 waren es schon 77.000, in den Folgejahren stieg die Zahl 127.000 und dann 202.000. Trotzdem wurden weiter Kapazitäten abgebaut, Unterkünfte abgerissen. Von heute auf morgen wird es jetzt keine guten Lösungen mehr geben, aber es ist wichtig, mittel- und langfristig Konzepte zu haben, sonst kommen wir aus dieser Lage nicht heraus. Wenn man schon 2012 gebaut hätte, wären viele Kommunen jetzt nicht in so einer schwierigen Situation.

MF: Der Königsweg der Flüchtlingsunterbringung ist, wie Sie sagen, die Normalwohnung. Was halten Sie von der Forderung, jetzt Sozialen Wohnungsbau speziell für Flüchtlinge zu schaffen?

Naujoks: Gar nichts. Der Soziale Wohnungsbau ist viel zu kurz gekommen in den letzten Jahren. Da muss dringend mehr getan werden, aber nicht speziell für Flüchtlinge. Es ist falsch, Gruppen gegeneinander auszuspielen. Sozialwohnungsbau muss immer für alle benachteiligten Bevölkerungsgruppen da sein.

MF: Danke für das Gespräch!


>>> Rechtsberatung für Mieterinnen und Mieter
 

Twitter


Arbeitsgemeinschaft der Mietervereine Bochum, Dortmund, Witten, Mietergemeinschaft Essen

Kontakt | Sitemap | Datenschutz | Impressum