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6. April 2016 (Aus den Städten)

Armutsbericht des Paritätischen: Ruhrgebiet ist Armenhaus Deutschlands

Den älteren Jahrgängen ist die Einrichtung noch vertraut unter dem Kürzel „DPWV“ (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband). Heute nennt er sich ganz modern „Der Paritätische“. Über 10.000 eigenständige Organisationen sind diesem Dachverband angeschlossen. Ob im Kinder-, Jugend-, Alten-, Armen-, Migranten-, Wohnungslosen- oder medizinischen Bereich: kaum ein Verband, der nicht im DPWV organisiert wäre. Einmal im Jahr – und so auch jetzt wieder – gibt der Paritätische einen über 100 Seiten starken Armutsbericht heraus. Der aktuelle ist durchaus positiv für Gesamtdeutschland, aber sehr negativ für das Ruhrgebiet ausgefallen.

Als Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider den Bericht am 23. Februar vorstellte, äußerte er sich verhalten optimistisch: „Gegenüber dem Vorjahreswert ist die Armutsquote um 0,1 Prozent-Punkte gesunken. Der bundesweite Aufwärtstrend seit dem Jahre 2006 ist damit im Jahr 2014 erst einmal gestoppt. Ob der Negativtrend damit beendet ist, ob er in eine Seitenbewegung einmündet oder ob es sogar der Beginn einer Trendwende ist, werden die nächsten Jahre zeigen.“

Um 0,1 Prozent gesunken heißt konkret: von 15,5 auf 15,4 Prozent. Das heißt aber immer noch: 12,5 Millionen Menschen in Deutschland – das ist jeder 6,5te – leben unterhalb der Armutsgrenze. Wobei „Armutsgrenze“ natürlich eine Frage der Definition ist. Für Schneider ist klar, dass man Armut definieren muss in Relation zum Wohlstand der Gesellschaft: „Man ist in diesem reichen Deutschland nicht erst dann arm, wenn man unter Brücken schlafen oder Pfandflaschen sammeln muss. Armut beginnt nicht erst dann, wenn Menschen verelenden. Für uns ist Armut auch dann bereits gegeben, wenn Menschen auf Grund ihres unzureichenden Einkommens einfach nicht mehr teilhaben können an ganz normalen Lebensweisen dieser Gesellschaft, wenn Menschen nicht mehr mithalten können, gezwungen werden, sich zurückzuziehen, faktisch ausgegrenzt oder abgedrängt werden, in Sub- oder Parallelgesellschaften der Armut.“

NRW gegen den Trend

In 9 der 16 Bundesländer ist die Armutsquote 2014 im Vergleich zu 2013 gesunken, sogar in Berlin, das dessen früherer Bürgermeister Wowereit einst nicht einmal ohne Stolz als „arm, aber sexy“ bezeichnet hatte – um 1,4 % nämlich. In Mecklenburg-Vorpommern sank die Armutsquote sogar um 2,3 %, und im besonders armen Bremen um 0,5 %.

Dass die Armut in Gesamtdeutschland dennoch nicht mehr als 0,1 Prozent-Punkte abnahm, ist in erster Linie den großen Flächenländern Bayern und Nordrhein-Westfalen geschuldet, in denen zusammen immerhin über 30 Millionen Menschen leben, 37 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands. War der Anstieg der Armutsquote in Bayern von 11,3 auf 11,5 Prozent noch relativ moderat, stieg die Quote in Nordrhein-Westfalen völlig gegen den Bundestrend gleich um 0,4 Prozent-Punkte von 17,1 auf 17,5 Prozent.

Nordrhein-Westfalen ist damit aktuell das Bundesland, das in der mehrjährigen Sicht die schlechteste Entwicklung aufweist. Seit 2006 nimmt in Nordrhein-Westfalen die Armut nun fast ununterbrochen zu: von 13,9 auf zuletzt 17,5 Prozent. Dies entspricht einem Anstieg um 26 Prozent. In keinem anderen Bundesland ist die Armut in diesem Zeitraum auch nur annähernd so stark angewachsen.

Ausschlaggebend für den langfristigen Negativtrend in Nordrhein-Westfalen ist das Ruhrgebiet: Erstmalig hat es 2014 mit seinen über 5 Millionen Einwohnern die 20-Prozent-Marke erreicht. Jeder fünfte Einwohner dieses größten Ballungsraums Deutschlands muss mittlerweile zu den Armen gezählt werden. Es ist ein Anstieg um 27 Prozent, seit im Jahr 2006 der Negativtrend in dieser Region einsetzte. Mit Blick auf seine Bevölkerungsdichte und die langfristigen Trends bleibt das Ruhrgebiet auch 2014 die armutspolitische Problemregion Nummer Eins in Deutschland.

Die Hartz IV-Quoten im Ruhrgebiet untermauern diesen Befund: Während die Hartz-IV-Quote zwischen 2006 und 2014 bundesweit von 11,4 auf 9,5 Prozent zurückging, stieg sie im Ruhrgebiet von 15,7 auf 16,4 Prozent. Bei den Kindern betrug sie zuletzt 28 Prozent, in Duisburg, Dortmund, Essen und Hagen über 30 Prozent und in Gelsenkirchen
sogar 40 Prozent. Fast jedes zweite Kind lebt dort mittlerweile von Hartz IV.

Risikogruppen

Armut ist in der Bevölkerung natürlich nicht gleichmäßig verteilt. Es gibt sogenannte „Risikogruppen“. Wer zu ihnen gehört, läuft viel eher Gefahr, arm zu sein oder zu werden. 2014 war die größte Risikogruppe erneut die der Erwerbslosen. 58 % aller Bundesbürger, die keine Arbeit hatten, gehörten zu den Armen. Bei den Alleinerziehenden waren es 42 %, bei den kinderreichen Familien 25 %, den Ausländern 33 % und den schlecht qualifizierten 31 %.

Ulrich Schneider wies besonders auf eine gerade entstehende neue Risikogruppe hin: die Rentner. Mit 15,6 % lag die Armutsquote bei ihnen erstmals über dem Durchschnitt. Ursache ist ein rasantes Wachstum der Armutsquote in dieser Gruppe: um 46 % seit 2005. Damit ist
die Armut unter den Rentnern seit 2005 etwa zehnmal so stark angewachsen wie beim Rest der Bevölkerung. „Ein solcher Anstieg, eine solche Rasanz ist völlig beispiellos“, sagte Schneider. „Es ist eine Armut, die sich zum Großteil ganz knapp oberhalb des Sozialhilfeniveaus bewegt. Leider bleibt sie bei vielen Akteuren damit zugleich unterhalb der politischen Wahrnehmungsschwelle.“

Flüchtlinge ändern wenig

Obwohl die Zahlen, die dem Armutsbericht zu Grunde liegen, aus dem Jahre 2014 stammen und damit nicht mehr ganz taufrisch sind, nahm Schneider bewusst auch zu der aktuellen Flüchtlingsthematik Stellung. Wie wirken sich die aktuellen Flüchtlingszahlen auf die Armutsquote aus? Schneiders Antwort: „Erst einmal gar nicht. Selbst wenn diese Menschen arm sind. Wie beispielsweise Wohnungslose, Bewohner von Pflegeheimen, Studenten in Wohnheimen oder Strafgefangene gehen die Flüchtlinge solange nicht in die Einkommensstatistik des Mikrozensus ein, wie sie in Erstaufnahme- oder anderen Gemeinschaftsunterkünften leben. Sie werden erst mit gezählt, wenn sie einen eigenen Haushalt haben.“

Selbst für den rein theoretischen und denkbar schlechtesten aller Fälle, dass alle  Flüchtlinge mit ihrem Einkommen unter die Armutsgrenze fielen, würde sich die Armutsquote lediglich um einen Prozentpunkt auf 16,4 Prozent erhöhen, rechnete Schneider vor. Die eine Million Flüchtlinge, die im letzten Jahr zu uns kam, machte lediglich knapp über ein Prozent der Bevölkerung aus.

Man dürfe die Relationen nicht aus den Augen verlieren: „Auch ohne Flüchtlinge haben wir 1 Million Langzeitarbeitslose, auch ohne Flüchtlinge fehlen uns bis 2020 jährlich 400.000 zusätzliche Wohnungen, darunter 80.000 Sozialwohnungen. Das Horrorszenario, wonach ausgerechnet die Flüchtlinge unseren Sozialstaat überstrapazieren würden, hat keine empirische Grundlage, sondern ist in erster Linie Stimmungsmache. Die Probleme auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und auch die Fragen inklusiver Bildung, vor denen wir stehen, sind nicht mit den Flüchtlingen gekommen, sondern sind das Ergebnis jahrelanger politischer Versäumnisse, unter denen Deutsche schon vorher und Flüchtlinge jetzt auch leiden müssen.“ Vielleicht – so hoffte Schneider – helfen die Flüchtlinge sogar, allen politisch Verantwortlichen endlich die Augen zu öffnen für das armutspolitisch Notwenige in diesem Lande.


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